Vom 08.-17. September fand das Jüdische Filmfestival in Berlin und Brandenburg statt. Ich konnte vom Festival selbst leider nur einen Programmpunkt anschauen, der aber immerhin aus drei Kurzfilmen bestand. Allerdings habe ich mir zwei andere Filme aus dem regulären Programm anschauen können, die in oder unter anderem in Israel produziert wurden. Sie sind alle sehr unterschiedlich, aber sie ergaben fünf sehr gute Einblicke in das Leben in Israel und seine Hintergründe.
1. Die Agentin
Der Film erzählt in einem eher typischen Thriller-Setting von einem ersten großen Auftrag und dem ersten Praxistest einer jungen MOSSAD-Agentin, die sich jedoch sehr schnell in ihr Zielsubjekt im Iran verliebt. Die typische Handlung, die an sich nur durch wirklich gute Darsteller*innen aufgewertet wird, wird dabei größtenteils aus der Rückschau erzählt, unterbrochen durch ein paar Szenen in der Gegenwart. Das macht die Story für die Zuschauenden zu einer wirklich guten Mischung aus langsamem Zusammensetzen und angenehmen Überraschungen.
Spannend neben dieser gut erzählten Handlung ist die Leistung von Martin Freeman: Er schafft es, im wichtigen Drittel des Films in der Gegenwart, der Hauptdarstellerin Diane Kruger nicht den Raum zu nehmen – obwohl sie oft gar nicht im Bild ist. Eine Notiz wert ist es allerdings, dass die Hauptfiguren in diesem Film, der den Plot über den MOSSAD aufbaut und Israel durchaus nicht gut dastehen lässt, von den weißen Europäern/Amerikanern Diane Kruger und Martin Freeman dargestellt werden. Allerdings haben die Figuren auch beide keine israelische Staatsbürgerschaft. Mein persönlicher Nachteil an diesem Film ist außerdem, dass eine ziemlich böse Szene (siehe Content Notes) eingebaut wurde – ohne die Handlung auch nur in irgendeiner Weise voranzubringen, sondern eher wie in „Game of Thrones“ für einen reinen Schock-Effekt.
[CNs: sexuelle Übergriffe (graphic), Abtreibungen, Krieg/Waffen usw., Terror, Drogen; viel shaky cam]
Hebrew Kisses
„Hebrew Kisses“ ist eine Komposition aus drei Kurzfilmen. Alle sind von Studierenden an verschiedenen Universitäten für Film und Medien in Israel entstanden. Sie erzählen in völlig verschiedenen Settings unterschiedliche Geschichten – doch alle beziehen sich auf den Hintergrund von Israel, der in verschiedenen Arten eine Rolle spielt. Dadurch ergibt sich ein einmaliges Bild dieser Aspekte des Lebens in Israel.
2. In His Place
Der erste Film erzählt von Omar und seiner Familie. Er lebt in Tel Aviv und besucht mit einem Freund die Beerdigung von dessen Frau. Als dieser danach eilig zu seiner Arbeit in der Klinik gerufen wird, bietet er sich an, auf die kleine Tochter aufzupassen. Da er selbst noch zu einem Familientreffen gehen soll, bringt er das Baby einfach mit. Doch seine Familie ist palästinensisch und kann weder mit dem Kind etwas anfangen noch teilweise diese Geste als etwas anderes als einen Verrat sehen. Und nebenbei kommt langsam auf, dass Omar wohl in die Verstorbene verliebt war.
Der Film hat kaum herkömmliche Handlung, doch die Bilder sind sehr beeindruckend – und Tel Aviv und die Umgebung wird sehr gut in Szene gesetzt.
[CNs: Tod, Beerdigung]
3. Hebrew Kisses
Der zweite Film erzählt von einer Beziehung junger Erwachsener: Die Erzählerin filmt Konversationen als Projekt, und sie zeigen die Zeit, in der ihr Partner sie darum bittet, es mit einem orthodoxeren jüdischen Leben zu konvertieren, damit er sie irgendwann heiraten kann. Sie zweifelt dagegen immer mehr daran – allerdings, ohne ihn weniger zu lieben. Der Film ist eine faszinierend nahe Erzählung einer Entwicklung, sowohl der Entwicklung von zwei Menschen als auch der Beziehung zwischen ihnen. Das alles wird beobachtet, während eine Person darin sich immer mehr mit strukturellen Nachteilen und Antifeminismus auseinandersetzen muss – aber auch damit, dass die tiefen jüdischen Strukturen in ihrer eigenen Familie vielleicht eher eine angenehme Geschichte als die Wahrheit sind.
Die Bezüge zu Israel sind in diesem Film klar, die Bedeutung des orthodoxen Judentums besonders – doch abgesehen davon sind es Probleme, die in fast allen orthodoxen oder strengen Religionen auftreten würden, und das macht die Geschichte und Entwicklung gleichzeitig spannend universell. Trotzdem ist sie für Menschen mit Erfahrungen einer toxischen oder abusive Partnerschaft möglicherweise triggernd oder unangenehm.
[CNs: toxische/abusive Beziehung, Zwang zu unterwürfigen Handlungen, Kleidervorschriften und Nacktheit in Kontext von religiösen Traditionen, viel shaky cam]
4. Almost Liam
[CN: Nennung von Tod durch Transfeindlichkeit im Review – kommt nicht im Film vor]
Dieser dritte Film hat mich innerhalb der Komposition am meisten beeindruckt. Er erzählt von Liam, einem trans Mann, der sein Coming-Out in der IDF (der israelischen Armee) hat, in der er auch schon zuvor gedient hat. Die Regisseurin ist eine Verwandte von ihm, und sie gibt ihm viel Raum, die Geschichte auch selbst zu erzählen. Dadurch kommt ein sehr gutes Portrait zustande, in dem das Narrativ allerdings leider auch teilweise von außen kommt und dadurch auch sehr pathologisierenden und transfeindlichen Aussagen etwas Raum gegeben wird – allerdings immer mit einem Liam daneben, der davon genervt ist. Aktiv richtiggestellt werden sie trotzdem nur durch die Aussagen von Liam und nicht direkt nach den entsprechenden Aussagen.
Trotzdem fand ich den Film sehr, sehr gut – nicht zuletzt, weil ich mit meiner Begleitung feststellen musste, dass dieser Film die einzige Dokumentation über lebende trans* Personen ist, die wir kennen, in der die beobachtete Person nicht stirbt oder ermordet wird. Ich kann den Film sehr empfehlen!
[CNs: Transfeindlichkeit, internalisierte Transfeindlichkeit, Misgendern, Nennen eines Deadnames]
[1] Eine Erklärung, weshalb ich hier „trans*“ mit * schreibe, findet sich zum Beispiel hier.
5. Synonymes
„Synonymes“ wird anders als die anderen Filme auf vielen großen Plakaten in der Öffentlichkeit beworben. Die Geschichte erzählt von Yaov, einem jungen Israeli, der sich vor seiner Vergangenheit und seinen Eltern nach Frankreich flüchtet und dort versucht, ein neues Leben anzufangen. Doch seine Sachen werden direkt nach seiner Ankunft gestohlen – und das Paar in der Nachbarschaft, das versucht, ihm zu helfen, scheint eher Interesse an seiner Person und seinem interessanten Leben zu haben als an einer gleichberechtigten Freundschaft.
Was folgt, ist eine wirre Mischung einer Melange-à-trois, einer persönlichen Tragödie in einer Familiengeschichte und eine politische Handlung vor dem Hintergrund der Bedeutung von Israel in einem Land, das zum Erzählzeitpunkt noch von islamistischem Terror geschüttelt ist. Leider kommen bei dieser Mischung die Figuren selbst viel zu kurz, sodass Zuschauende eigentlich nur unsympathischen leeren Blättern dabei zusehen, zu noch unsympathischeren Versionen ihrer selbst zu werden. Gerade Yaov wird zu einer immer toxischeren, gewalttätigeren Figur – und all diese Entwicklungen scheinen mit dem „Junge Menschen suchen nach Sinn und nach sich selbst“-Klischee erklärt zu werden. Das reicht mir nicht – zumal es Antifeminismus und misogynen Beleidigungen noch mehr Raum gibt, denn natürlich dürfen Männer so viel Sex mit so vielen Menschen haben, wie sie wollen, aber bei Frauen ist das moralischer Verfall. Und dass der Film in einem völlig offenen Ende ausblendet, lässt noch nicht einmal die Frage nach der Entwicklung der Figuren und der leisen Handlung beantworten.
Das alles lässt mich nur einmal mehr in Frage stellen, ob ich weiterhin preisgekrönte Filme aus dem Mainstream sehen sollte.
[CN: Gewalt, Rassismus, üble Misogynie, starke Präsenz sexuelle Inhalte, viel shaky cam.]
Ich bin sehr froh, diese Möglichkeit bekommen zu haben, und habe bei allen Filmen ein bisschen was gelernt. Noch suche ich für die Kurzfilme nach Möglichkeiten, sie ein weiteres Mal zu sehen – aber ich kann das Jüdische Filmfestival an sich sehr empfehlen und bin mir sicher, dass es das auch noch in anderen Regionen und überregional gibt und es sich immer lohnt!