[CN: Beispiele für Ableismus in Zitaten]
„I’m a queerfeminist cyborg, that’s okay“ ist laut Titel eine Gedankensammlung zu Anti/Ableismus. Dabei ist das Buch viel mehr als das.
Es beschreibt autobiografische Erlebnisse, Gedanken – aber auch die strukturelle Ebene der Diskriminierung von be_hinderten [mehr zu dieser Formulierung später im Text] und queeren Personen in der Gesellschaft. Außerdem werden die Verflechtungen und Zusammenhänge von Ableismus, Klassismus, Queerfeindlichkeit und nicht zuletzt den Wechselwirkungen mit dem Kapitalismus Raum gegeben. Darüber hinaus werden Gedanken über positive Utopien gesammelt, Visionen über die diskriminierende Gesellschaft hinaus, für die auch Begriffe neu geschaffen und definiert werden.
Crip future ist eine Zukunft, in der Behinderung und ein lebenswertes, erfülltes Leben, wie es schon heute be_hinderte Menschen führen, nicht als Gegensatz konstruiert werden. In meiner Vision von crip future besitzen wir alle Werkzeuge und Hilfsmittel, die wir brauchen, die Teilhabe, Partizipation und Mobilität bedeuten würden. Diese Werkzeuge, Technik und Hilfsmittel gibt es schon reichlich, aber in der Gegenwart ist der Zugang zu ihnen beschränkt.
S. 11
Die persönlichen Erzählungen der schreibenden Person geben dem Titel eine autobiografische und damit unglaublich authentische Ebene. Dadurch sind die strukturellen Ebenen, die auch wissenschaftlich erläutert werden, sehr angenehm und verständlich zu lesen – und im Zweifel sind auch viele Erklärungen und Definitionen eingebunden. Außerdem ist die Schrift ziemlich groß, woran ich mich schnell gewöhnt habe, was aber eben vielen anderen Menschen die Möglichkeit gibt, das Buch (besser) lesen zu können. Diese Ergänzungen machen das Buch genau wie die Content Notes an den Innenrändern für die einzelnen Absätze (die heller sind und im Zweifel auch gut absichtlich übersehen werden können) zu einer sehr besonderen Lektüre, die wohl auch dann noch lange nachhallen würde, wenn sie nicht so ein wichtiges Anliegen hätte.
Aber dieses Anliegen hat die Lektüre, und die Zusammensetzung aus Erzählung, Vision und Hintergründen macht die Zusammenhänge verständlich, aber zeigt auch die Vielschichtigkeit ihrer Grausamkeit auf, wozu auch ein Interview mit SchwarzRund im Buch beiträgt. SchwarzRund ist ein*e queere Schwarze Schriftsteller*in, die Intersektionalität und die kombinierten Unterdrückungs-mechanismen damit auch selbst erlebt und in den eigenen Aktivismus einfließen lässt. Die Visionen im gesamten Buch schaffen trotzdem die beinahe schon entschiedene Unmöglichkeit: Sie machen dieses Buch trotz allem zu einer Lektüre, aus der ich mit Hoffnung herausgegangen bin. Natürlich hat dazu vor allem beigetragen, dass ich von den meisten der beschriebenen Diskriminierungen nicht betroffen bin. Ich bin trotzdem sehr froh, dass Mika Murstein mers Utopien mit mir geteilt hat und mir so einige Gedanken dazu gegeben hat, wie eine andere Gesellschaft aussehen kann – eine Gesellschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Und ganz nebenbei ist das Buch eben auch für uns Privilegierte, die nicht betroffen sind. Denn es gibt Ansätze, mit denen wir besser unsere Macht im System reflektieren können, und dazu, wann wir etwas sagen und wann wir etwas tun sollten. Auch darin hat mir das Buch viel Mut gegeben. Es ist zum Beispiel tatsächlich einfach, ableistische und saneistische Sprache zu vermeiden, wenn wir wirklich darüber nachdenken, was wir eigentlich meinen – denn dann sind Nazis zum Beispiel eben nicht mehr „dumm“, sondern gefährlich, weil sie aus Hass heraus rücksichtslos und schädlich handeln.
Nach sogenannten Amokläufen meist weißer Männer wird schnell nach einer psychischen Erkrankung und Ähnlichem als Auslöser gesucht. Da kann jemensch vorher ellenlange hasserfüllte Pamphlete ins Internet gestellt haben, plötzlich ist die Person, ohne vorher jemals diagnostiziert worden zu sein, angeblich „geisteskrank“, „persönlichkeitsgestört“ oder, auch sehr beliebt: „autistisch“
S. 34
Während es viele Schimpfwörter gibt, die sich ursprünglich auf „Mangel an Intelligenz“ beziehen/mit kognitiven Be_Hinderungen assoziiert werden, werden Begriffe für körperliche Be_Hinderungen/Einschränkungen eher in Analogien und als Metaphern verwendet. Wenn eine Be_Hinderung als Metapher für ein negatives Verhalten, eine negative Charaktereigenschaft genutzt wird, so ist dies (dis_) ableistisch. Die Gesellschaft ist rassistisch, aber nicht „auf dem rechten Auge blind.
Und schließlich nutzt das Buch geschlechtergerechte Sprache sowie einige Konzepte für Begriffe (wie Be_Hinderung), die die betroffenen Menschen in den Fokus stellen und dadurch nicht nur die etablierten Begriffe hinterfragen, sondern auch die Gesellschaft, die sie geschaffen hat. Auch das hat mich sehr glücklich gemacht und mir einige neue Ideen dazu gegeben. Und wer es nicht gewohnt ist, findet sich recht schnell ein, das hat mir eine andere lesende Person bestätigt.
Damit kann ich eigentlich nur mit Bewunderung für dieses einmalige Werk schließen, das mir all diese Themen näher gebracht hat, das mir so viel erklärt und beigebracht hat – und mich dabei trotzdem nicht die Hoffnung verlieren ließ. Besonders in der Kombination, in der von einer betroffenen Person über Ableismus und Queerfeindlichkeit berichtet wird, ist das Buch relativ einzigartig, und ich kann es auch dafür einfach empfehlen, aber vor allem einfach dafür, wie gut es auf jeder Ebene gemacht ist.
Anmerkung: Mika Murstein liest am Donnerstag, 24. Oktober, also diese Woche, um 18 Uhr in Leipzig. Hier findet ihr mehr Informationen zur Veranstaltung. Ich bin auch dabei und würde mich freuen, euch dort zu sehen!
[Content Notes für das Buch finden sich an den jeweiligen Seitenrändern für die jeweiligen Absätze; evtl. schon vor dem Lesen wichtig: Suizid für S. 274-317.]
Ein Gedanke zu “[Rezension] Mika Murstein: I’m a queerfeminist cyborg, that’s okay”