"Wasteland" von Judith und Christian Vogt, vor einem Bücherregal.

[Rezension] Judith C. Vogt und Christian Vogt: Wasteland

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar! Es hat nicht nur mein Leseverhalten hoffnungsvoller gemacht, sondern auch einige meiner Tage – und meinen Blick auf die Zukunft und auf die des deutschen Buchmarktes.


CNs für die Rezension: Erwähnung von TERFs und Co., toxischer Männlichkeit, Folter, sexuellen Übergriffen und Sklaverei


Ich lese gern apokalyptische Bücher. Zerstörung des Bekannten, Umschwung zum Unbekannten und Orientierung in neuen Verhältnissen sind für Figuren spannende Herausforderungen und für Lesende eine tolle Möglichkeit, den Entwurf einer Welt zu sehen bekommen, der ein bisschen die bekannte Welt abändert. Postapokalyptische Literatur bringt das noch ein Stück weiter. Ich kann einen Blick darauf bekommen, wie eine neue Ordnung oder Unordnung in einer Welt aussieht, die diesen ersten Schritt schon durchgemacht hat. Und bin dadurch noch ein Stück weiter weg vom Jetzt und näher an Utopien, Dystopien und Zukunftsentwürfen dazwischen, die sich von der Schreibgegenwart abgelöst haben.

Aber in diesen Handlungen laufen diese Figuren eben genau durch das zentrale Instrument dieser Apokalypse – durch eine zerstörte Welt. Ich erfahre etwas über ihren Charakter, ihre Ziele, ihre Vergangenheit, und manchmal auch noch mehr. Aber ich erfahre das alles in einer abgegrenzten Szenerie, denn um die Figuren herum gibt es unüberwindbare Grenzen, Mauern oder Katastrophengebiete. Die Gesellschaften, die vorkommen, sind einheitlich oder bestehen aus einzelnen kleinen Gruppen. Eine ganze Bevölkerung kommt nie zustande, Unterschiede sind höchstens zwischen zwei Grüppchen zu spüren. Aus irgendeinem Grund sprechen immer noch alle Englisch, und die Werte sind dieselben wie vor dem Zusammenbruch.

Mir war nie klar, wie sehr mir ein anderer Entwurf einer Postapokalypse mit einem Blick über diesen Tellerrand hinaus gefehlt hat. Bis ich „Wasteland“ aufgeschlagen habe.

Hier sieht die Apokalypse anders aus. Die meisten relevanten Plotstränge spielen sich im zerstörten Rheinland ab, dieses Gebiet lernen wir auch genauer kennen und lieben. Doch die Außenwelt existiert noch – einzelne Figuren bekommen es auch im Plot zu sehen, und die Erinnerungen an Reisen und andere Orte und das Reisen dorthin sind ständiger Teil des Plots. Natürlich gibt es noch etwas anderes, natürlich sind dort auch andere Arten von Gesellschaften entstanden statt die im Zentrum der Handlung und die Gegenspieler dazu. Und durch diese Heterogenität bildet sich auch eine neue Art von Konflikt heraus, doch vor allem zeigt es eine ganz andere Art von Welt auf als die üblichen Zukunftsvisionen – eine Welt, die mich trotz all ihrer negativen Aspekte schon aufgrund dieser Details glücklich macht. Und das nicht nur, weil sich sichtlich ein Gemisch aus Sprachen durchgesetzt hat, die sich regional unterscheiden, aber nicht nur aus europäischen Sprachen bestehen.

Gleichzeitig hält sich bei allen regionalen Unterschieden in Zugehörigkeit, Religion und Sprachverständnis der Menschen auch ein gemeinsames kulturelles Wissen. Das Wissen über die Welt vor der Apokalypse mag noch in Reichweite sein, zumal einige der handelnden Figuren diese Welt noch erlebt haben. Trotzdem ranken sich bereits Legenden um einige Aspekte – und doch ist eine Art kulturelles Wissen über die Welt vor diesem Untergang noch in der Gesellschaft vorhanden, die Legenden haben dieselben Schwerpunkte, die eben für die Entstehung der Apokalypse wichtig waren. Diese Punkte sowie der Zeitpunkt des Verfalls sind unumstritten, egal, wie weit die Kulturen und Einstellungen der Figuren und der Gruppen auseinanderliegen. Dieser Aspekt hat die erzählte Welt für mich sehr lebendig und vielschichtig gemacht. Und auch die Hauptfiguren machen die Welt dreidimensionaler und hoffnungsvoller.


Die beiden jungen Hauptfiguren Zeeto und Laylay scheinen auf den ersten Blick ähnlich, zumal sie sich in einer ähnlich schwierigen Situation befinden, in einem ähnlichen Alter sind und sich mit denselben Problemen in derselben postapokalyptischen Welt herumschlagen. Und trotzdem unterscheiden sie sich von der ersten Minute an. Unterschiedliche Erzählperspektiven unterstreichen nur das, was durch eine wunderbare Charakterisierung, eine eigene Geschichte und einen eigenen, durchgehend harmonisch klingenden Sprachcode für beide Hauptfiguren bereits angelegt wurde. Zeeto und Laylay haben nicht nur eigene Ausdrucksweisen, sondern auch einen anderen sprachlichen Hintergrund, sie beschreiben ihre Umgebung unterschiedlich und lassen andere Details auf ihre eigene Weise einfließen oder auch eben nicht.

Dabei sind diese beiden Hauptfiguren auch beide unter den besten Darstellungen von mental illness, die ich kenne. Zeeto schlägt sich mal mit seiner bipolaren Neurodivergenz herum, mal schöpft er Kraft daraus. Und auch Laylay findet etwas über sich heraus, das ich zum Vermeiden von Spoilern aber nicht erwähnen sollte. Beides ist sehr gut und nicht ausschließlich erschlagend negativ dargestellt, und das, ohne die vorhandene Macht von zum Beispiel einer depressiven Episode zu verharmlosen. Das habe ich in einem Roman mit einem Konflikt nach außen statt auf Figurenebene bisher kaum gesehen, und es begeistert mich wirklich sehr.

Ein spannender Aspekt ist die dritte, immer wieder kurzzeitig erzählende Figur Root. Ich zögere, auch ihn als Hauptfigur zu bezeichnen, denn weder wird viel in seine Gefühle geschaut noch macht er eine nennenswerte Entwicklung durch. Doch die Idee, auch eine verfolgte Figur bei der Gegenseite zu haben, und dazu noch in einem sehr abstrakten Setting, hat mir sehr gefallen. Root ist eine Art Priester, der das Wi-Fi anbetet und dabei so spannende Artifakte wie Dronen mit sich herumträgt, die geheiligte Namen wie Alek-za tragen und mit deren Hilfe er für Entertainment in Form von Videoübertragung sorgt und das Narrativ so gut kontrolliert, wie es in diesem Setting möglich ist. Die Abschnitte mit Root sind so absurd, dass sie großen Spaß machen. Dabei kommt auch sehr der Spaß durch, den die Autor*innen beim Schreiben haben mussten, und es lockert die trostlosen Aspekte darum herum sehr gut auf.

Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die Art, wie hier die Einstellungen der Figuren vermittelt wird. Laylay und Zeeto sind anarchistisch und queerfeministisch geprägt, sie bilden sich nicht ein, das Geschlecht oder die Pronomen eines Menschen irgendwie am Aussehen ablesen zu können und sie fragen nach Konsens bei schwierigen Gesprächsthemen und um Hilfe, wenn sie sie brauchen. Das macht sie nicht nur zu unglaublich angenehmen Figuren, die keinen großen Konflikt daraus machen, dass sie einmal nicht über etwas geredet haben. Es macht sie auch in der Funktion der sympathietragenden Figuren zu kulturellen Botschafter*innen für die Lesenden. Wenn sie auf konservative Menschen treffen, die Geschlecht am Aussehen festmachen, lachen sie. Wenn sie mit dem Tod bedroht werden, fragen sie vor der fiesen Beleidigung trotzdem nach, mit welchem Pronomen sie sie bilden sollten. Und das macht diese Sichtweise nicht nur selbstverständlich, sondern auch zur Selbstverständlichkeit der Guten und des Guten in diesem Roman.


Und ja, das Buch ist geschlechterneutral geschrieben, es wird nur von Antagonist*innen binäre Sprache verwendet und in den Erzählungen von Zeeto und Laylay wird eben keiner auch mal nur eben kurz auftauchenden unbekannten Person ein Geschlecht zugewiesen. Und das funktioniert. Es tauchen ein paar Figuren mit nichtbinären Pronomen auf, und es wird einfach eingebaut. Auch dieses aktive Einwerfen von queeren Themen habe ich neben der Erzählung selbst sehr gerne gelesen. Und ein wichtiger Aspekt befindet sich ja auch in der Darstellung der Villains – die nicht nur antifeministisch und queerfeindlich auftreten und handeln, sondern damit auch einen Scherenschnitt von toxischer Männlichkeit darstellen. Und die ist hier so aktiv als überholt und unnötig dargestellt, dass ich dieses Buch in der Überschrift zuerst einen „Grabstein für toxische Männlichkeit“ nennen wollte. Es ist wunderbar.

Auch diese andere Art von Menschen, vor allem Typen, tauchen in dieser Version der Postapokalypse auf. Das sind dann minor villains, die durchaus verletzen, wenn sie misgendern oder mit Folter und sexuellen Übergriffen drohen – was noch eine besonders miese Dimension dadurch bekommt, dass Sklaverei bei ihnen tatsächlich verbreitet ist. Und im Zuge einer Geschichte, die sehr auf die Hauptfiguren innerhalb eines solchen Gefüges fokussiert ist, findet zwar ein Reflektieren über diese Außenhandlungen statt, es wird aber nicht zu einer Art Plot, aktiv etwas dagegen zu unternehmen. Was ich davon halte, ändert sich jeden Tag ein bisschen – natürlich nagt es an der Darstellung von Held*innen, und auch von Antiheld*innen, wenn sie so etwas einfach stehen lassen. Aber diese kleinen Momente von Hoffnung, die sich die Protagonist*innen hier erkämpfen, sind eben auch nur das, und es wäre durchaus unrealistisch, wenn hier eine plötzliche Revolution losbrechen würde.


Es gibt einen Twist, der schlechte Meinungen in anderen Rezensionen bekommen hat – aber ich mochte ihn sehr und fand das Ausbrechen aus der Genrekonvention zwar überraschend, aber passend zu ein paar einzelnen Momenten und Plotelementen, die auch schon vorher etwas von meinen bekannten Versionen der Postapokalypse abwichen. Tatsächlich macht er mir sogar Hoffnung für mehr anderen, neuen Plot in einem möglichen nächsten Teil… Aber hier mehr dazu zu sagen, würde spoilern.

Dieser Twist gehört auch zum Plot, der auch schon auf dem Klappentext geteasert wird: Denn Laylay ist immun gegen das Wasteland-Virus, das den Großteil der Bevölkerung auf dem Gewissen hat – und sich in der Gegend ausbreitet, in die ausgerechnet Zeeto stolpert und damit den Hauptplot ins Rollen bringt. Den will ich hier gar nicht weiter erwähnen, aber auch der ist wirklich packend und gut. Ich hätte das Buch wahrscheinlich schon gemocht, hätte ich nur diesen Plot bekommen und nicht die ganzen anderen wunderbaren Details.

Nun… Abschließend lässt sich für mich nur sagen, dass meine Erwartungen an dieses für mich neue Genre Hopepunk nicht nur erfüllt, sondern übertroffen wurde. Der Punk-Teil macht einfach Spaß, der Hope-Teil gute Laune, selbst angesichts einer schon vergangenen Apokalypse lassen sich immer wieder Momente genießen und Sekunden zum Atmen finden, für Protagonist*innen und Nebenfiguren wie für Lesende. Und das macht nicht nur die Apokalypse weniger furchteinflößend, sondern ganz nebenbei auch die Realität voll Klimakatastrophe und Nazis.

Das Buch ist das unangefochtene Highlight meines Jahres, und eigentlich auch meiner letzten Jahre insgesamt. Es hat meine Leseflaute beendet und gleichzeitig mal eben meine Verzweiflung gegenüber der deutschsprachigen Literatur aufgelöst. Und auch in diesem Sinne ein bisschen Hoffnung gesät – in die Zukunft und in die Bücher, die da noch kommen könnten.

Danke euch beiden dafür, Judith und Christian, und all den Leuten, die an diesem Buch beteiligt waren und in diesem Genre schreiben.


CNs für das Buch von den Autor*innen: Gewalt, explizite Schilderung von Sex, Depression und bipolarer Neurodivergenz, Kontrollverlust, verbale Androhung sexueller Gewalt, Erwähnung von Sklaverei und sexuellem Missbrauch.

Die CNs für das Buch von mir weiter unten enthalten Spoiler, sind aber ausführlicher.


CNs für das Buch von mir (enthalten Spoiler): Suizid (Szene, die sich so liest, dass das erwartet wird, aber nicht passiert), Nennung von Vergewaltigungen, sexueller und anderer Sklaverei und Drohung damit, Depressionen, Sex ohne Verhütung.

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